Wie viele Autorinnen kannst du auf Anhieb nennen? Der Schulunterricht, Rezensionszeitschriften und die Liste der Literaturnobelpreisträger_innen etc. suggerieren uns, Frauen hätten kaum bzw. lediglich qualitativ minderwertige Texte verfasst und enthalten uns vor, dass die ersten überlieferten Werke von Frauen bereits 4000 Jahre alt sind, dass schon im Mittelalter erste feministische Schriften verfasst wurden und dass schreibende Frauen immer schon von gesellschaftskonformen Rollenbildern abgewichen sind.
In diesem Sinne haben wir einen feministischen Lesekreis ins Leben gerufen, der sich an jedem ersten Mittwoch im Monat von 16:00 bis 18:00 via Jitsi-Meet trifft. Die Teilnahme ist kostenlos. Komm vorbei, um mit uns über die Werke von Autorinnen aus aller Welt zu diskutieren!
Anmeldung und Fragen an: support@igfem.at
Buchbesprechungen 2023
Jänner
Brüste und Eier – Mieko Kawakami

Wenn man wissen will, wie arm jemand war, fragt man ihn am besten, wie viele Fenster die Wohnung hatte, in der er aufgewachsen ist.
Im Gegensatz zur letzten Sitzung unseres feministischen Lesekreises, bei der mit Annie Ernaux‘ „Das Ereignis“ ein Roman über die Geschichte einer Abtreibung im Vordergrund stand, ging es heute mit „Brüste und Eier“ von Mieko Kawakami um die Frage, ob auch Kinderwunsch ein feministisches Thema ist. Im Zentrum der Diskussion: die Reduktion der Frau auf ihre Funktion als Gebärerin oder Sexualobjekt, das Ausbrechen der Protagonistin aus den sexistischen Strukturen der japanischen Gesellschaft durch die Weigerung, dem Narrativ des klassischen Familienlebens zu folgen und wieso in dem Wort shocho (erste Blutung) Anfang, Ebbe und Flut, gute Gelegenheit und Kundengefälligkeit als Konnotationen mitschwingen. Einig waren wir uns nicht zuletzt darüber, dass wir alle durch das gemeinsame Sprechen über das Buch neue Perspektiven darauf gewonnen haben und die Lektüre somit eine nachhaltigere und eindrücklichere geworden ist.
Februar
153 Formen des Nichtseins – Slata Roschal

Es gibt so einen Zustand, wissen Sie, vor dem ich am meisten Angst habe, eigentlich habe ich vor kaum etwas Angst, habe keine Angst zu sterben zum Beispiel, aber so ein Nichtsein, weder Leben noch Tod, eine fremdbestimmte, von außen geleitete, hilflose Existenz, ohne eigene Sphären, also grob gesagt, als ob man die Badezimmertür nicht zuschließen dürfte, von sich nicht glauben dürfte, dass man etwas Besseres sei, ja, lauter nackte geschorene Körper und ein Sein zum Tod, ohne Spuren, ohne Texte, ein lebendiges Begrabenwerden, wissen Sie, wie sehr ich es fürchte.
Was ist Identität? Slata Roschal zufolge geht es bei dieser Frage nicht nur um das, was wir sind, sondern auch – und vielleicht sogar noch mehr – um das, was wir nicht sind. Ihr Roman „153 Formen des Nichtseins“, dessen Form ebenso fragmentiert und vielseitig ist, wie die Identität seiner Protagonistin, erwächst aus dem Spannungsfeld zwischen diesen beiden Gegensätzen und regt dazu an, sich mit den eigenen Fremd- und Selbstdefinitionen auseinanderzusetzen.
März
Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Café – Fannie Flagg

That was it… having balls was the most important thing in this world. No wonder she had always felt like a car in traffic without a horn. It was true. Those two little balls opened the door to everything. They were the credit cards she needed to get ahead, to be listened to, to be taken seriously. […]
Then another truth occurred to her. Another sad, irrevocable truth: She had no balls and never would or could have balls. She was doomed. Ball-less forever. […]
Maybe she could get two from an anonymous donor. That’s it, she’d buy some off a dead man and she could put them in a box and take them to important meetings and band them on the table to get her way.
Als Evelyn Couch die fünfzig Jahre ältere Ninny Threadgoode im Pflegeheim kennenlernt, ahnt sie nicht, dass diese Begegnung ihr Leben verändern wird. Schon lange mit sich selbst und ihrer Situation unzufrieden gewinnt sie durch die Geschichten, die ihr ihre Freundin erzählt, an Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit. Wie die Protagonistin aus Fannie Flaggs „Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Café“ haben auch wir uns in die Welt von Whistle Stop und die Geschichte von Ruth und Idgie hineinziehen lassen. Was uns an dem Roman mit Abstand am meisten beeindruckt hat: seine starken und facettenreichen weiblichen Charaktere sowie die Solidarität zwischen ihnen und sein scharfsinniger Witz!
April
Ulrike Maria Stuart – Elfriede Jelinek
Buchbesprechungen 2022
Juni
Gesang der Fledermäuse – Olga Tokarczuk

Juli
Ich bin Circe – Madeline Miller

August
Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt – Nicole Seifert

September
Die Tochter – Kim Hey-Jin

Oktober
Nevermore – Cécile Wajsbrot

Time Passes, To the Lighthouse, in diesem Buch ist ebenso viel von Licht die Rede wie von Zeit. Und was für ein schönes Wort, lighthouse, das französische Wort phare ist auch schön, aber man hört das Licht nicht darin, wenngleich man sich den Lichtstrahl vorstellt. Das deutsche Wort »Leuchtturm«, der leuchtende Turm, ist dem englischen Wort näher, auch wenn das »Leucht« gedämpft scheint im Vergleich zu »Licht« oder zu dem strahlenden Klang des englischen Wortes light, und ein Bild heraufbeschwört, das weniger sharp ist und clear.
Am 5. Oktober traf sich unser feministischer online-Lesekreis, um gemeinsam über Cécile Wajsbrots Roman »Nevermore« zu diskutieren. Neben der translationalen Poetik, die im Zwischenraum der Sprachen, der sich in der Übersetzung von oder besser (in der sprachlich-tastenden Annährung an) Virginia Woolfs »To the Lighthouse« öffnet, wurde erörtert, inwiefern die die eigene Sprache in der Übersetzung zu einem Fremdort wird, an dem ein Gefühl des zu Hause seins nicht mehr möglich ist. Hierin sehen wir auch die feministische Dimension des Textes: die Übersetzung ermöglicht ein Lösen von patriarchalen Sprach- und den ihnen inhärenten Gewaltstrukturen. Fazit: Eine Lektüre, deren einzigartige Sprachmelodie noch lange nachwirkt!
November
Girl, Woman, Other – Bernardine Evaristo

What matters most to me, is that I know how I feel, and the rest of the world might catch up one day, even if it’ll be a quiet revolution over longer than my lifetime, if it happens at all.
Am 2. November fand unser feministischer Lesekreis zu Bernardine Evaristos »Girl, Woman, Other« statt. Dieser multiperspektivische Roman gibt anhand von 12 spannenden, vielschichtigen und vor allem nachvollziehbaren Charakteren 12 verschiedene Antworten auf die Frage, was es heißt eine Frau bzw. nicht-binäre Person in einer patriarchalen Gesellschaft zu sein. Er hat uns einmal mehr gezeigt, dass Literatur die einzigartige Fähigkeit besitzt, verdrängte Geschichten zu erzählen und wie wichtig ein feministisches Narrativ darin ist!
Dezember
Das Ereignis – Annie Ernaux

Etwas erlebt zu haben, egal, was es ist, verleiht einem das unveräußerliche Recht, darüber zu schreiben. Es gibt keine minderwertige Wahrheit. Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern, und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt.
Am 6. Dezember traf sich unser feministischer online-Lesekreis zum letzten Mal in diesem Jahr. Im Zentrum der Diskussion: »Das Ereignis« der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, welche im Rahmen einer autobiographischen Erzählung ihr eigenes Leben und davon ausgehend die gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen im Frankreich der 60er Jahre, insbesondere männliche Herrschaftsansprüche über den weiblichen Körper, analysiert. Eine Thematik die mit dem polnischen Abtreibungsgesetz oder dem Kippen von Roe v. Wade so aktuell ist wie je zuvor!